Die Sache mit den Sesambeinen

Frage:
Kann Anatomie etwas mit Sesam und kleinen Bohnen zu tun haben?

Antwort:
Ja, und für das Verständnis von Erkrankungen im orthopädischen Bereich ist daher ein wenig Hintergrundwissen gefragt. Daher vorab an dieser Stelle ein kurzer Exkurs in die Anatomie.

„Sesam und Bohnen … was sollen die schon mit dem Körperbau zu tun haben? Allenfalls vielleicht noch mit der Nahrung.“ Wer das jetzt denkt, hat falsch gedacht, denn im Körper vieler Lebewesen, auch unserer Hunde, gibt es sogenannte Sesambeine, lateinisch als Fabella bezeichnet, was so viel bedeutet wie „kleine Bohne“. Das größte Sesambein von Mensch und Hund kennen viele: die Patella, also die Kniescheibe. Doch es gibt im Bereich zahlreicher Gelenke noch weitere.

Und welche Funktion haben nun Sesambeine?

Es sind kleine Knochen, die dazu dienen, dass die Sehne einen ausreichenden Abstand zu den umliegenden Knochen einhält, um dadurch deren Streckung und Beugung zu ermöglichen. Sie wirkt sozusagen als Verstärkung der Hebelwirkung.

Jetzt zur Erkrankung mit folgendem Fallbeispiel:

Eine sportlich geführte Australian Shepherd-Hündin, 4 Jahre alt, lahmt immer mal wieder hinten nach dem Aufstehen. Doch auch beim Longier-Training passiert es immer wieder und leider immer häufiger, dass sie plötzlich nur auf drei Beinen läuft. Für die Besitzer erstaunlich bis verwunderlich ist die Tatsache, dass mal hinten links und mal hinten rechts geschont wird. Sie fragen sich, ob es sich um Kreuzbandrisse auf beiden Seiten handeln könnte. Diagnostisch lassen sich aber keine Instabilitäten des Kniegelenks erkennen. Es ist auch keine Schwellung vorhanden. Beim Abtasten der Kniekehle zeigt die Hündin jedoch eine deutliche Schmerzsymptomatik. An dieser Stelle ist es notwendig weitere diagnostischen Maßnahmen durchzuführen, denn es könnte sich um eine durch Überbelastung entstandene Sehnenreizung, eine sogenannte Insertionstendopathie, der sehnigen Ansätze des Zwillingswadenmuskels handeln. Dieser Muskel, dessen anatomische Bezeichnung Musculus gastrocnemius lautet, hat zwei Ursprünge am Oberschenkel im Bereich der Kniekehle. Von hier zieht er runter bis zum Fersenbein, wo er seinen Ansatz hat. Seine Funktion ist hauptsächlich die Streckung der Ferse. Allerdings hat er bei extremer Sprint- und Sprungbelastung auch die „passive Haltefunktion“ eines „Anti-Beugers“. Es kommt in der Bewegung also zu einer massiven Dehnung des Muskels mit hoher Grundspannung, wenn das Sprunggelenk gebeugt wird, und anschließend durch die aktive Kontraktion noch einmal zu einer extremen Belastung.

Da im Bereich der sehnigen Muskelursprünge des Musculus gastrocnemius sogenannte Sesambeine, medizinische Fabella genannt, liegen, deren Funktion in der Verstärkung der Hebelwirkung liegen, kann es durch die immer wiederkehrende Be- und Überlastung genau hier zu Mikrotraumata kommen. Es kommt zu kleinsten Rissen, Wasseranlagerungen und letztlich dann zu einer Schmerzreaktion. Beim Menschen spricht der Mediziner dann von einem Fabella-Syndrom.

Eine sichere Diagnose kann durch ein MRT, ein kontrastmittelgestütztes CT oder teilweise sogar schon mittels einer Röntgenaufnahme gestellt werden. In der Therapie, bei der es für 4 bis 6 Wochen um einen absolute Ruhighaltung und auch die Gabe von entzündungshemmenden Schmerzmitteln geht, kann danach mit einem strukturierten Programm zum Wiederaufbau gestartet werden. Isometisches Training und propriozeptive Übungen, im Anschluss Cavalettitraining. Wichtig ist allerdings auch, dass die durch die Schmerzen eingenommenen Schonhaltungen durch entsprechende therapeutische Maßnahmen aufgelöst werden. Durch dieses Vorgehen hat der betroffene Hund gute Aussichten auf eine vollständige Genesung.

Im Falle der Aussie-Hündin, bei der die Entzündung sehr ausgeprägt war, was sich in den Aufnahmen des CTs zeigte, war eine längere Ruhigstellung notwendig. Diese Zeit war sicherlich für die Hündin nicht schön, denn sie war natürlich die sportliche Auslastung gewohnt. Für die Besitzer stellten sich dadurch gänzlich neue Herausforderungen, denn irgendwie ausgelastet werden musste sie natürlich. Durch viel Kopfarbeit konnten die Wochen trotzdem gut überstanden werden. Nach der Phase der Ruhighaltung begannen wir sehr langsam mit der Wiederaufnahme eines leichten erst passiven, dann aktiven Bewegungsprogrammes. Über einen Zeitraum von mehreren Wochen hinweg, konntne muskuläre Dysbalancen, fasziale Läsionen behoben und eine schmerzfreie Beweglichkeit wieder hergestellt werden.

Grundsätzlich werden die Ursprünge der beiden Zwillingswadenmuskeln eine Schwachstelle für diese Hündin bleiben, worauf bei ihrer sportlichen Auslastung geachtet werden sollte.

Es gilt im Allgemeinen:

Wenn ein Hund lahmt, hat dies eine Ursache, die es herauszufinden gilt. Den Hund zu animieren, sein natürliches Verhalten, betroffene Körperstellen zu schonen, führt einerseits eher zur Verschlimmerung einer bestehenden Erkrankung, gegebenenfalls zu einer Chronifizierung, und andererseits zu einer Ausweitung der Beschwerden und Schmerzen auch auf andere Körperbereiche.